Kulturell orientiertes Design
Ein Leben als Grenzgänger
Text: Boujema Boujiha
Mentorat: Dr. phil. des. Ralf Michel, Prof. Dr. Regine Halter
Einführung
„Seit Serge Mouangue Verbindungen zu vier Kontinente pflegt sind Fragen nach Identität, Heimat und kulturellen Grenzen seine Ständigen Begleiter.“1
Nicht nur Menschen führen ein Dasein als Grenzgänger auch Ideen, Waren, Dienstleistungen und Industrieerzeugnisse und zwar schon immer. Dies wiederum führt zur Veränderungen und Entwicklungen der Kollektive und Gesellschaften.
Gesellschaften sind ständigen Veränderungen unterworfen. Sie sind dynamische Konstrukte, sind ständig im Wandel, ständig im Dialog und Austausch mit ihrer Umwelt. Globalisierung, Kultur- oder Wissenstransfer sind keineswegs Phänomene der Neuzeit. Schon entlang der früheren Handelsrouten wie der Seidenstrasse oder durch den Expansionsdrang der Großmächte über die Epochen hinweg wurden Werte, Waren, Kultur, und Wissen getauscht. Darüberhinaus förderten die Migrationswellen verschiedenster Epochen bis ins Heute diese Entwicklung.
Diese Ost-West / Nord-Süd Beziehungen sind durch ihre Wechselseitigkeit charakterisiert. Der „Globalisierungsprozess, den Europa angestossen hatte, wirkt auf den Initiator zurück. “2 Die Stärke und Vitalität jeder souveränen Gesellschaft, so scheint es mir, liegt auch in ihrer Fähigkeit und der Bereitschaft, äußere Einflüsse entsprechend den eigenen Bedürfnissen zu filtern, für ihre eigene Weiterentwicklung zu adaptieren und in bestehenden Strukturen zu integrieren. Werke wie der ‚West-östlicher Divan‘ von Goethe, Gewürze und vieles mehr zeugen von diesem Austausch der Kulturen in nahezu allen Disziplinen.
Spätestens mit Beginn des kolonialen Zeitalters und den imperialistischen Ansprüchen der Großmächte ist diese Beziehung Ost-West / Nord-Süd nachhaltig gestört. Die Fähigkeit zur Adaption scheint uns abhanden gekommen zu sein. Die Beziehungen wurden einerseits von Überlegenheitsgefühlen und Machtansprüchen bestimmt, „Fremdes wurde zu eigenem, die vernetzte Welt, die das möglich machte, wurde und wird dabei kaum wahrgenommen.“3 Auf der andere Seite erzeugten diese Beziehungen ein Gefühl von Machtlosigkeit und Überstülpung des Fremden. „[…] Wir unsererseits stießen auf eine überlegene Zivilisation, waren gezwungen diese zu adaptieren, und mussten dafür einen andern Kurs einschlagen als denjenigen den wir seit ein paar Tausend Jahren verfolgt hatten, was verschiedene Mängel und Unbequemlichkeiten zur Folge hatte.“4 Klagt der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirō. Oder es handelte sich gar um eine 'Invasion', gegen man sich wehren musste, wie Franz Fanon es formulierte: „Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten […]; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen‚ geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt […]." 5
So entstand in den ‚unterlegenen’ Kulturen und in den sogenannten postkolonialen Gesellschaften, eine Kultur der Ablehnung gegen das Fremde um das Eigene, das vermeintlich Wahre zu schützen. Keine moderne Gesellschaft kommt heute ohne ein Ministerium für Kultur aus. Die Frage nach der Leitkultur wird in den Raum geworfen, dominiert den öffentlichen Diskurs und beschert uns sogenannte identitäre Bewegungen überall in Europa, aus denen gar politische Parteien hervorgegangen sind. Aber was ist das überhaupt, Kultur? Was ist das so Schützenswerte daran, das wir mit Vehemenz so rein wie möglich halten wollen?
Als Gestalter möchte ich der Frage nachgehen: Inwiefern spielen die Kultur und kulturelle Eigenheiten im Designprozess eine Rolle?
Der Soziologe Ulrich Beck ist der Ansicht, dass die kulturelle Differenz zunimmt und im Zuge der ›neuen Unübersichtlichkeit‹ die lokalen kulturellen Besonderheiten wieder an Bedeutung gewinnen. Gilt das auch im Design? Wie lassen sich kulturelle Verschiedenheiten als Innovationstreiber in Designprozess einbinden abseits der Folklore, Nostalgie und schmückenden Elemente? Gibt es gar kulturelle Determinanten im Design?
1_Museum der Kulturen Basel: StrohGold - kulturelle Transfolmationen sichtbar gemacht, 2014
2_Wendt, Reinhard: vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn, München, Wien, Zürich 2007, S. 87
3_Ebd.
4_Jun’ichirō, Tanizaki: Lob des Schatten, Manesse Verlag Zürich 2010,
S. 18
5_Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main, Suhrkamp 2014, S. 263

Kultur – kritisch betrachtet
Der heute dominante, oft wertende Kulturbegriff ist zu eng gefasst. Er reduziertes die Kultur auf einen gesellschaftlichen Teilbereich, oft nur auf die Künste. Man spricht von Hochkulturen, entwickelten und unterentwickelten Ländern, kultivierten und weniger kultivierten Menschen etc. Und Kultur “hat die Eigenart, das Werk bestimmter Künstler oder bestimmte Kunstrichtungen besonderes hell anzustrahlen, das Licht zu ihren Gunsten zu bündeln, ohne zu bedenken, dass dadurch der ganze Rest im Dunkeln versinkt.“12
„Das Wort Kultur bezeichnet jetzt nicht mehr die Gesamtheit der Werke des kulturellen Erbes, auf das wir uns beziehen sollen, sondern hat eine ganz andere Bedeutung angenommen: Es ist mit Aktivismus und Indoktrinierung verknüpft [...] Es mobilisiert staatsbürgerliche Gesinnung und Patriotismus. Es hat die Tendenz, eine Art Religion, eine Staatsreligion zu werden.“13 kritisiert der französische Maler und Bildhauer Jean Dubuffet. Er findet: „Es ist Zeit, nicht nur gegen die genaue, wirkliche Bedeutung des Wortes Kultur anzugehen [...] sondern auch gegen die besondere Färbung, die dieses Wort angenommen und damit nicht nur eine Umdeutung des Wortes sondern auch der zugrundeliegenden Vorstellung im Bewusstsein der Allgemeinheit bewirkt hat.“14
Für die vorliegende Arbeit ist es daher nicht ausschlaggebend, eine richtige oder richtig empfundene Definition von Kultur zu finden oder gar eine zu liefern. Vielmehr geht es um die Rolle dessen, was als „Kultur im Designprozess“ bezeichnet werden kann.

Für mich als Designer ist die Art und Weise, also die Kultur, die Toilette zu benutzen, nicht mehr aber auch nicht minder wichtig als die Art der Nahrungsaufnahme bzw. des Essens. Kultur ist die Gesamtheit aller materiellen und immateriellen Ressourcen innerhalb spezifischer Umwelten. „Der Begriff ‚Kultur‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang ein ganzes Bündel von Aspekten: Techniken, Artefakte, Alltagspraxen, Werte, Weltbilder etc.“15 Dem kann ich zustimmen und frage mich in der Folge, wie ich den weiten Begriff der Kultur im Rahmen meiner Thesis einschränken kann.
Kulturelle Identität
Während der Lektüre von „Die Affenbrücke“ und „Der Weg zum Anderen“ von dem französischen Philosophen und Sinologen François Jullien, begann ich, Kultur immer weniger als einen festen, übergeordneten Wert zu betrachten. Ich konzentrierte mich immer mehr auf die Ressourcen, die sich kleinräumig an verschiedenen Orten auf der Welt entwickelt haben.16 Eine verborgene „wahre“ kulturelle Identität Marokkos, die irgendwo zu finden, zu ergründen wäre, wäre also für dieangestrebte Auseinandersetzung mit dem geographischen und sozialen Ort Marokko, der auch als Kulturraum bezeichnet werden kann, nicht hilfreich. Vielmehr besteht dieser kulturelle Ort Marokko aus einem Netzwerk vieler regional verankerter Werte, die hier und da Ähnlichkeiten aufweisen oder durch fließende Übergänge gekennzeichnet sind.
Die Suche nach einer kulturellen Identität ist vergleichbar mit dem Betrachten eines Bildes oder eines Gemäldes, das mehr und mehr in seine einzelnen Pixel oder Farbkleckse zerfällt, je mehr man heranzoomt. Das Verhältnis der Pixel zueinander ergibt das Gesamtbild, die Schärfe ist nur im richtigen Abstand möglich. „[...] man kann nicht festlegen, was das ‚Eigentliche‘ einer Kultur sein – ausmachen – und woraus sich ihr wahres Wesen, ihre Essenz konstituieren könnte. Denn was ist dieses ‚Eigentliche‘ des Kulturellen? Es besteht wohl im Wandel und in der Veränderung. [...] Man begibt sich auf die Suche nach etwas wie einem harten, reinen Kern der Kultur, jedoch durch Leugnung ihres notwendigen Wandels: Notwendig, weil durch ihn die Kultur am Leben im Umbruch treibt.“17
Weil Kultur und folglich auch Gesellschaften dem Wandel unterworfen sind, käme jeglicher Versuch, das Wesen oder die kulturelle Identität auszumachen oder gar diese schützen zu wollen, einem Screenshot gleich, der nie in der Lage sein wird, eine Kultur in ihrer Vielschichtigkeit und in ihrer Tiefe auch nur annähernd zu beschreiben.
Design
„Wenn wir gegenwärtig über Design sprechen oder unsere Produktrecherchen durchführen, dann konzentrieren wir uns dabei eigentlich fast immer nur auf einen kleinen Teil der Welt – nämlich auf Westeuropa, Nordamerika und Japan. Auch wenn wir über Design, über Designgeschichte oder Perspektiven für Design reden, dann sehen und bewerten wir doch alles überwiegend aus der speziellen Perspektive der Europäer, für die sich die historische Entwicklung von der Renaissance über die industrielle Revolution, Industrialisierung zum elektronischen Zeitalter, wie wir es nennen, als geradlinige Entwicklung darstellt. Und dabei übersehen wir häufig den weitaus größeren Teil der Welt, die weitaus größere Zahl der Bevölkerung unseres Pla- neten. Menschen, für die die Industrialisierung und die westliche Lebensform tiefe Einschnitte in jahrhundertelange Lebensformen und Kulturen und Wertmaßstäben bedeutet haben, und auch jetzt noch bedeuten!“18
12_ Erni Peter, Huwiler Martin, Marchand Christophe: Transfers. Verlag Lars Müller, Baden, 1999, S. 412
13_ Ebd.S.412
14_ Ebd.S.412
15_ Moosmüller, Alois: Konzepte kultureller Differenz, Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation, Band 22, Waxmann Verlag GmbH, Münster 2009, S. 13
16_ Jullien, François: Die Affenbrücke. Wien: Passagen Verlag 2014, S. 21
17_ Jullien, François: Der Weg zum Anderen. Wien: Passagen Verlag, 2014, S. 26
18_ Ulm, Internationales Forum f. Gestaltung: Kulturelle Identität und Design: IF6 Tagung 1989, Ernst & Sohn, Berlin 1990, S. 26
Kulturell orientiertes Design
Kann es nun kulturell orientiertes Design geben? Dazu möchte ich mit einem Beispiel einsteigen. „Laraki Automobiles“ (1997–2008) war ein Automobilhersteller mit Firmensitz in Casablanca, 24 der den Vorsatz hatte, ein Fahrzeug hundertprozentig in Marokko zu entwickeln. Ein Fahrzeug in, aber nicht unbedingt für Marokko.
Mir wäre der forschende Ansatz, ein Fahrzeug für Marokko zu entwickeln sympathischer. Der zweite Teil des Satzes in Marokko scheint mir eindimensional und beliebig austauschbar zu sein. Dagegen suggeriert für Marokko eine Anpassung, eine Spezialanfertigung. Daher möchte ich in einem kleinen Exkurs darüber spekulieren, was wäre, wenn „Laraki Automobiles“ den Anspruch hätte, ein Fahrzeug für Marokko zu entwickeln.
Die kleine Präposition für kann ein größeres Potenzial in diesem Zusammenhang entfalten und Raum für Visionen eröffnen. Ein Fahrzeug für statt nur in einem bestimmten Land, einer bestimmten Region oder einem bestimmten Kulturkreis zu entwickeln würde heißen, sich mit diesem Land, dieser Region oder diesem Kulturkreis zu beschäftigen und die Frage zu stellen, welche Art Mobilität es dort überhaupt braucht. Was benötigt ein Land ohne fossile Energiequellen, ohne Automobilindustrie und ohne eine Tradition im Fahrzeugbau in Zeiten des Klimawandels, des Ozonlochs und der immer knapper werdenden fossilen Energieressourcen? Welche Ressourcen gibt es vor Ort, welche müssen angeschafft werden? Hätte man all diese Fragen berücksichtigt, dann hätte man erkannt, dass der Verbrennungsmotor und die jetzige konventionelle Art der Mobilität nicht zukunftsfähig sind und folglich nicht zeitgemäß. Diese Schlussfolgerung hätte die Macher vielleicht dazu bewegt, über alternative Antriebsformen, neue Energiequellen und zukunftsweisende Mobilitätsformen nachzudenken. Diese Überlegungen hätten möglicherweise zu echten, bahnbrechenden Innovationen im Bereich der Mobilität, das Land zu einem neuen Technologiestandort geführt, abgesehen von dem wirtschaftlichen Aufstieg und ... Diese Überlegungen lassen sich ins Unendliche fortsetzen und variieren.
Ich dachte an den japanischen Schriftsteller Jun’ichirō Tanizaki und seinen Essay „Lob des Schattens“, in dem er die Überlegung anstellt, welche Auswirkungen es wohl gehabt hätte, wenn ein Japaner oder Chinese sich den Füllhalter ausgedacht hätte. Vielleicht Auswirkungen auf das Schreibgerät selbst, auf die Papierqualität bis zum Verlagswesen. Das Denken und die Literatur wären vielleicht in neue, selbstständigere Sphären vorgestoßen.25 So Tanizaki.
Wie Tanizaki weiß auch ich, dass diese Gedanken nichts weiter sind als Fantasien.26 Träumen sei aber an dieser Stelle erlaubt, denn Design ist ein hervorragendes Instrument, um Visionen und Utopien aufzustellen und diese sogar erlebbar zu machen. Denn „Utopie im Alltag mitzudenken und daraus produktive Momente und Lösungen für DesignerInnen zu machen, ist dabei der nächste Schritt.“27 „Sicher wird nicht alles Realität, was unter Utopie fällt. Dennoch denke ich, dass wir es heute in der Hand haben, aus Utopie Alltag zu machen.“28 Das skizzierte Szenario ist zwar eine Wunschvorstellung, aber eine denkbare wünschenswerte realistische Vorstellung. Sie hat nicht nur Utopisches, man könnte von einer „konkreten Utopie“29 sprechen.
Oder auch: Eine vertane Chance!

Es wurde ein Sportwagen gebaut. Spätestens bei den Motoren hätten die Macher Kompromisse eingehen müssen. Schließlich kamen Motoren von Lamborghini und Mercedes zum Einsatz. Ein Fahrzeug lediglich in Marokko oder in irgendeinem anderen Land entwickeln zu wollen, würde das Land zu einem Vehikel oder einer Spielwiese für Ideen tollkühner Ingenieure und des Kapitals machen. Für dagegen rückt den Kontext ins Zentrum, beschäftigt sich mit ihm, setzt ihn als entwerferischen Bezugspunkt voraus.
Jahre später griff der Künstler Eric van Hove die Idee auf, um die fehlenden fünf/sechs Prozent marokkanischer Entwicklung beizusteuern. Er baute einen Mercedes V12-Motor nach. Diesmal aber hundertprozentig entwickelt und hergestellt in Marokko aus Materialien, wie Holz, Kupfer, Knochen, Stein, Leder usw., die in den jeweiligen Techniken von Kunsthandwerkern aus ganz Marokko bearbeitet wurden. Daraus entstand ein Motor, der zwar poetisch funktioniert, aber eben nicht technisch. Ein Kunstwerk!
Seine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein im November 2016 „Von der Transformation der Dinge“ trug den Titel „Atchilihtallah“ gesprochen: „Had schi li ata llah.“ Ein Titel, der nicht besser sein kann. „Had schi li ata llah“ ist eins dieser gefügelten Worte wie „Maschallah“ oder „Inschallah“. Man hebt die Hände über den Kopf und sagt „Had schi li ata llah“, sinngemäß: Das ist alles, was ich kann. Ich kann es nicht besser!
24_ https://de.wikipedia.org/wiki/Laraki_Automobiles (23.06.2017)
25_ Tanizaki, Jun’ichirō: Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik. Zürich: Manesse-Verlag 2010, S. 17
26_ Tanizaki, Jun’ichirō: Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik. Zürich: Manesse-Verlag 2010, S 20
27_ Thema – Social Design – Magazin der Universität für angewandte Kunst Wien Nr. 02/2009, S. 10
28_ Marion Brückner in: Thema, a.a.o.
29_ https://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Utopie (23.06.2017)
Produktkultur im Sinne der Gestaltung des menschlichen Lebensumfeldes ist immer auch das Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen. Für den Entwerfer ist es daher essenziell, sich in gestalterischen Prozessen mit Phänomenen seiner Zeit der uns umgebenden Lebenswirklichkeit zu beschäftigen.
Eine der wichtigsten Institutionen, die sich mit dieser Thematik beschäftigt hat, ist das bereits erwähnte Internationale Forum für Gestaltung in Ulm (IFG) im Jahre 1989, in Form einer Tagung.
Kultur im Designprozess ist kein Faktor neben vielen anderen. Kultur muss als vorgegebene Rahmenbedingung betrachtet und berücksichtigt werden, nicht als steuerbare Variable im gestalterischen Überlegungen
Wir schaffen Strukturen, die uns wiederum prägen. Der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieb die symbiotische Beziehung zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen, zu denen auch Design gehört, als „strukturierende Strukturen“.31
Für das Design ist Kultur das Biotop, das Ökosystem, ja der notwendige Kontext. Die Kultur und das in ihr sedimentierte Wissen und die Erfahrungen sind der eigentliche Nährboden für Entwicklungen. Wichtiger, als etwa die Technik, die wie das Design selbst Teil dieser übergeordneten Kategorie Kultur ist. Zur Bedeutung des Kulturellen für das Design schreibt der Designtheoretiker und Publizist Jörg Petruschat von der Hochschule Weissensee:
„Nun werden Sie mir antworten, dass das doch ein ganz alter Hut sei, dass Designer kulturelle Kompetenzen in das Entwurfshandeln einfließen lassen. Und ich müsste antworten: Ja. Das mag alt sein. Aber mir geht es dann doch um sehr viel mehr. In den mir bisher bekannten Vorstellungen vom Entwurfshandeln ist Kultur ein Faktor, der berücksichtigt werden muss, weil er das Medium darstellt, in das hinein die Objekte gesetzt werden. Designobjekte in einer Kultur sind aber etwas Anderes als Fische in einem Aquarium. Mein Vorschlag zur Erforschung des kulturellen Faktors im Design ist deshalb auch weitreichender. Ich sehe Kultur nicht als einen Faktor in Gestaltungsprozessen an, nicht als einen Faktor neben anderen Faktoren, sondern als das im tiefsten Wortsinne entscheidende und gestaltbildende Kriterium über alle anderen.“32 Jörg Petruschat
Kulturell orientiertes Design, hat hier also nicht die Absicht, wie die Bezeichnung vielleicht vermuten lässt, eine Identität des marokkanischen, arabischen oder orientalischen Designs zu entwickeln, noch weniger ist ein Design mit entsprechendem folkloristischem Touch oder Flair erstrebenswert. Kulturell orientiertes Design verfolgt vielmehr einen menschenorientierten (human-centered) und kontextorientierten Ansatz, der explizit auf verschiedene ökonomische Gegebenheiten und Erfordernisse, lokale Werte, Bedingungen, Ressourcen, Fähigkeiten und Grenzen eingeht.
31_ Brocchi, Davide: Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit. In: MagazinCultura21. Köln: Herausgeber Institut Cultura21 e.V 2007. S.2
32_ Petruschat, Jörg: Wicked Problems: http://valerie.ch/wp-content/uploads/2014/02/2011_Petruschat_Vortrag_Wicked_Problems.pdf S. 17–18 (28.06.2017)